Prophet of Doom
20 Jul 2005, 14:07
Der Konsument fordert einerseits nicht beschissen zu werden, andererseits kann er die ungeschminkte Wahrheit aber auch nicht vertragen.
Die aktuelle Ausgabe ist auch sonst wirklich lohnenswert und enthält auch Anregungen zur aktuellen Diskussion im Workblogger.
Der Pudding, die Wand und der Nagelbrand eins Magazin, Text: Wolf LotterDer einzige Zweck von Kommunikation ist heute, was dabei hinten herauskommt. Halten wir uns das mal vor Augen und direkt unter die Nase.
Und dann reden wir noch mal darüber.
"[...]Der Wettbewerb sei hart. Ackermann vergleicht ihn mit der Flucht vor einem Bären: „Wer überleben will, muss zwar nicht unbedingt so schnell laufen können wie der Bär, aber bitte doch schneller als die Mitläufer.“ Noch bevor jemand überlegen kann, was das krumme Bild eigentlich bedeutet, ist der Vorsitzende schon beim eigentlichen Thema: Um dem Bären zu entkommen, müssten nun mal Leute gekündigt werden – in Deutschland sind „netto 1920 Stellen betroffen“. Er sagt das wirklich so: netto 1920 Stellen. Das ist, nicht nur nach den Regeln professioneller Kommunikation, schlicht minderbemittelt. Kündigungen, die formuliert werden wie ein Gewinn nach Steuern. Es ist verständlich, dass wütende Gewerkschafter und Kritiker ihm vorwerfen werden, er habe damit sein unsägliches Victory-Zeichen, das er ein Jahr zuvor breit grinsend im Mannesmann-Prozess zeigte, wiederholt. Doch Josef Ackermann, der Kaspar Hauser des Kapitals, versteht das nicht. Er habe doch nur auf der Hauptversammlung gesagt, was er zuvor schon den Fachleuten in der Analystenkonferenz gesagt habe. Er könne doch nicht hier das eine und dort etwas anderes sagen. „Wir sagen das, was wir denken“, sagt Ackermann. Das ist ein Zitat eines seiner Vorgänger, Alfred Herrhausen, dem von der RAF ermordeten Vordenker der Deutschen Bank.
Kleiner kann man sich durch einen Vergleich nicht machen.
Nun ist all das ungeschickt. Aber ist es falsch? Sagte Ackermann nicht, was er dachte? Zu sagen, was man denkt, war auch das Problem von Hoechst im Jahr 1993. Der Werksleiter von Griesheim sagte die Wahrheit, gab also alle Informationen punktgenau, sogar nach DIN-Norm[...]
weiter...
.. Problem ist nicht, dass gesagt wird was gedacht wird, sondern das was gedacht wird und die vermeidlichen Gründe dafür. Ist doch erfrischend wenn gesagt wird, was gedacht wird, aber ob das nun immer die Wahrheit ist, wage ich zu bezweifeln ..
JoSchu
20 Jul 2005, 14:35
@Chino: Wie definierst du denn Wahrheit, wenn nicht über die Kommunikation des Gedachten?
Und speziell für dich:
Zitat
Es geht um Ideologie, und wer nichts anderes kann, als diese Sprache zu sprechen, will auch nichts anderes hören. So wird Wirtschaft zur Ideologiefrage gemacht. Ideologie ist, was die Welt einfach erklärt. Ideologie ist geistige Gemütlichkeit. Damit gewann sie im Lauf der deutschen Geschichte fast jedes Streitgespräch mit der handfesten Wirtschaft, deren Wesen nun einmal komplex ist. Dagegen anzuschreiben, meint Spinnen, sei „wie einen Pudding an die Wand nageln zu wollen“.
Interessanter Artikel, trifft leider meine Meinung nicht. Während der Autor der Meinung ist, dass viele Missverständnisse (d.h. Wahrheit als Lügen deutet) daher rühren, dass die Menschen unfähig sind, dass was sie ausdrücken wollen auf den Punkt zu bringen, vertrete ich einen anderen Standpunkt. Und zwar sind die Leute von heute unfähig Beziehungen und Gründe darzulegen.
Die Menschen im Umland von Hoechst wissen, dass die dortigen Arbeiter tagein, tagaus Schutzanzüge tragen müssen, jeder der einen persönlich kennt, hat ihn schon mal von hochgiftigen Substanzen reden hören. Klar, dass vor diesem Hintergrund die Meldung "ist ja fast nichts passiert, das war ja nur sehr gering toxisch", sehr unglaubwürdig. Diese Lücke in volksverständlichen Worten zu schliessen ist nicht passiert.
Ähnlich gelagert auch der Fall Ackermann. Zu verkünden, dass man netto 2,4 Milliarden Euro Gewinn gemacht hat, aber trotz allem 1920 Stellen abbauen muss, muss erstmal jemanden klar gemacht werden. Für den normalen Arbeiter sieht das so aus wie "die Großen wollen den Gewinn behalten, und wir müssen dafür bluten".
Ähnlich auch Wahlversprechen. Mal abgesehen davon, dass dort sowieso mit Versprechungen geworben wird, die nur umsetzbar wären, wenn die Partei 100% bekommt, die Wirtschaft plötzlich 20% Steigerung pro Jahr bringt und man sich beim Lesen das Wahlprogrammes schon etwas wundert, wieviel man aus einem nichtigen Nebensatz herausziehen kann, gelingt es den wenigsten Politikern des Volkes zu erklären, warum man diese nicht umsetzen kann. Erklärungen wie "wir saßen zwar die ganze Zeit im selben Gremium, aber konnten trotzdem erst nach der Wahl nachschauen, dass wir gar nicht mehr genügend Geld besitzen um unsere Wahlversprechen einzulösen" klingen sowohl dem kleinen Mann als auch dem Politikerfahrenen sehr komisch in den Ohren.
Die syntaktische Lücke zeichnet sich also nicht in der schlechten Kommunikation der Tatsachen aus, sondern in der schlechten Kommunikation der Erklärungen. Da aber eine Erklärung nur echt klingt, wenn sie auch echt ist (ist doch das Thema so komplex, dass man länger brauchen würde eine stichfeste erlogene Erklärung zu finden, als die betreffende Person lebt), wird sie in den meisten Fällen schlicht weggelassen oder zu detaillos gegeben.
Wahrheit ist nicht unbedingt immer das, was Personen denken zu wissen. Es ist z.B. phsychologisch bewiesen, dass sich Erinnerungen verändern und das was Menschen als Wahrheit in ihrer Vergagenhei ansehen, nicht immer die Realität gewesen sein muss.
Demnach hat jeder von uns seine eigene Vergangenheit, die für jeden die persönliche Wahrheit darstellt, nicht aber wirklich eine Wahrheit sein muss.
Gibt wunderbare Studien zu dem Thema.
Ob Herr Ackermann Lügt oder die Wahrheit sagt ist relativ egal, er ist Manager, getrimmt darauf Wirtschaftliche Erfolge in Form von Kapitalgewinn zu erzielen. Da wird nicht daran gedacht was er und andere mit ihren Entlassungen Deutschland antun, da wird einfach nur auf die Firmenbilanzen geschaut. Laut den Bilanzen mag das ja alles stimmen, aber ob es "richtig" ist so zu handeln ist doch eine ganz andere Frage ...
Wahrheit ist in dem Zusammenhang einfach unpassend.
Vieleicht sollte man eher über Wirtschaftsmoral diskutieren ...
JoSchu
20 Jul 2005, 17:09
Leider ist die Einordnung in "richtig" und "falsch" in der Realität fast nie möglich. Es kommt immer auf den Standpunkt an. Insofern bringt es auch nichts, Wahrheit mit Richtigkeit zu verknüpfen. Und damit ist Wahrheit letzlich doch das, was man für wahr hält. Nur wird uns ja leider oft selbst das vorenthalten.
@Chris: Das wurde in dem Artikel doch aber auch schon angesprochen. Der Einzelne hat nur einen begrenzten Horizont. Der Chemiefabrik-Direktor wird nunmal davon ausgehen, dass alle Leute wissen, was mit "mindergiftig" gemeint ist. Da kann man ihm nicht wirklich einen Vorwurf machen, er attribuiert einfach seinen Kenntnisstand auf andere. Und wenn die Medien als Mittler dann nicht ordentlich recherchieren bzw. das Ganze noch aufbauschen, weil das mehr Quote/Auflage bringt, dann folgt daraus eben eine solche Verzerrung.
Wahrheit ist das, was faktisch passiert ist. Richtig ist eine Aussage, wenn sie der Wahrheit bzw. den Fakten entspricht. Man kann auch einen anderen Kontext der Einordnung von richtig und falsch zugrunde legen, dann ist eine Aussage richtig, wenn sie dem Ziel des festgelegten Kontextes entspricht (z.B. Kontext: Panik vermeiden, richtige Aussage: es gab keine Terroranschläge sondern einen technischen Defekt, obwohl diese Aussage nicht auf der Wahrheit beruht).
Was ich nicht sagen wollte ist, dass ein Attributionsfehler vorgenommen wird (der kann zwar vorkommen, ist aber nicht das Hauptproblem). Ausserdem führt ein Attributionsfehler nicht zu Verlust der Glaubwürdigkeit, sondern höchstens zum Nichtverständnis der erzählten Tatsachen.
Zum Verlust der Glaubwürdigkeit führt eine missverständliche, unverständliche oder nicht vorhandene Erklärung. Denn für Glauben gibt es eine wichtige Regel. Man glaubt, was man sich selbst erklären kann.
So glaubt man an Gott, weil Gott eine einleuchtende Erklärung für alles unerklärliche ist (z.B. warum leben wir). Man glaubt daran, dass 3 mal 2 gleich 6 ist, weil man sich 3 mal 2 Bollern hinmalen kann und dann nachzählen kann, dass es 6 sind. Man glaubt aber nicht daran, dass bei Hoechst nur mindergefährliche Stoffe ausgetreten sind, weil man sich nicht erklären kann, warum sonst alle Mitarbeiter nur mit hochgefährlichen Stoffen hantieren, bzw. Chemie schon immer das war was zischt und kracht und alles kaputt macht, und man mindergefährliche Stoffe nicht mit diesem Weltbild erklären kann.
Genauso glaubt man dem Herrn Ackermann nicht, dass er 1920 Leute entlassen muss, weil er 2,4 Milliarden Euro Gewinn gemacht hat.
Die Tatsachen sind da, aber sie werden nicht erklärt. Und deswegen sind sie unglaubwürdig.
.. sehr schön.
Das diese Tatsachen nicht erklärt werden kann daran liegen, dass die Erklärungen nicht befriedigend wären.
Ich würde beiden Fällen eine Halbwahrheit unterstellen (wenn man, wie schon gesagt, überhaupt von Wahrheit reden kann)...
JoSchu
20 Jul 2005, 18:03
Das Problem ist ja immer auch, dass sich die Wahrheit (nach Chris Defintion) erst im Nachhinein erschließt (Den Menschen passiert bei Austritt eines mindergiftigen Stoffes nichts.) bzw. bei Eintreten eines Ereignisses die Konsequenzen der Alternativen unbekannt bleiben. (Wenn die Deutsche Bank die Leute nicht entlässt, wird sie bankrott gehen, übernommen werden, ...)
Damit ist die Wahrheit (als das, was faktisch passiert) nie voll erfassbar und damit kann man auch nicht (bewusst) nach ihr handeln.
Zitat(JoSchu @ 20 Jul 2005, 18:03)
Das Problem ist ja immer auch, dass sich die Wahrheit (nach Chris Defintion) erst im Nachhinein erschließt (Den Menschen passiert bei Austritt eines mindergiftigen Stoffes nichts.) bzw. bei Eintreten eines Ereignisses die Konsequenzen der Alternativen unbekannt bleiben. (Wenn die Deutsche Bank die Leute nicht entlässt, wird sie bankrott gehen, übernommen werden, ...)
Damit ist die Wahrheit (als das, was faktisch passiert) nie voll erfassbar und damit kann man auch nicht (bewusst) nach ihr handeln.

Das auf jeden Fall. Alle Fakten sind vermutlich für niemanden erfassbar. Doch wird auch mit bekannten Fakten geknausert. Dass der Stoff mindergiftig war und welche Auswirkung er auf die Leute haben kann, war wohl schon vorher bekannt. Was nicht bekannt war, war dass Hoechst auch mit mindergiftigen Stoffen hantiert, und deswegen war die Aussage unglaubwürdig.
Bei der deutschen Bank kommt noch ein wichtiger Faktor hinzu, nämlich dass Leute zu dem eigentlichen Faktum (1920 Leute müssen entlassen werden) ein Hinterwissen bekommen (nämlich 2,4 Milliarden Euro Gewinn im letzten Jahr). Dies sind zwei sehr widersprüchliche Fakten, die nicht recht in Verbindung gesetzt werden können. Auch irgendwelchen Überlegungen hinsichtlich bankrott gehen, übernommen werden kann man nur schwer folgen. Immerhin sind ja 2,4 Milliarden Euro ein Scheissgeld, mit dem man 400.000 durchschnittliche Angestellte ein Jahr lang bezahlen könnte. Und was soll man dann erst noch sagen, wenn man erfährt, dass im Jahr 2003 gut 800 Millionen Euro an die Besitzer der Aktien ausgezahlt wurde. Man gerät in den Erklärungsnotstand, wieso die Besitzer Geld bekommen, während Angestellte arbeitslos werden. Und dieser führt dann zu den Fakten, die keiner wissen und keiner sagen will, da sie die Grundlage des kaptalistischen Systems bildet.
Insofern denke ich, dass die Menschen, aber auch das System, die Wahrheit nicht vertragen kann, und bekommt maximal Ausschnitte aus der bekannten Wahrheit vorgesetzt.
JoSchu
20 Jul 2005, 18:39
Hier haben wir so einen Fall verzerrender Fakten:
Zitat(Chris @ 20 Jul 2005, 18:24)
Und was soll man dann erst noch sagen, wenn man erfährt, dass im Jahr 2003 gut 800 Millionen Euro an die Besitzer der Aktien ausgezahlt wurde. Man gerät in den Erklärungsnotstand, wieso die Besitzer Geld bekommen, während Angestellte arbeitslos werden.
800 Millionen Euro für die Aktionäre klingt so natürlich ungeheuer viel. Wenn man aber weiß, dass es ungefähr 500 Millionen Deutsche-Bank-Aktien gibt, kommt man pro Aktie auf einen Betrag von 1,50 €. Wenn man weiterhin weiß, dass diese Dividende benötigt wird, um die Aktionäre bei Laune zu halten, weil sie sonst verkaufen, die Aktie fällt, dadurch das Unternehmen massiv an Wert verliert und so durchaus handlungsunfähig werden kann, dann siehst man das Ganze schon aus einem ganz anderen Licht. Mal abgesehen davon, dass die Deutsche Bank mit hunderten
Milliarden jongliert und die paar Millionen nun wirklich keine direkten Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Bank haben (was so viel heißen soll, wie: Die Bank braucht das Geld nicht und wenn man es den Aktionären gibt, hat dass einen positiven Effekt auf die Bank).
Zitat(JoSchu @ 20 Jul 2005, 18:39)
Mal abgesehen davon, dass die Deutsche Bank mit hunderten
Milliarden jongliert und die paar Millionen nun wirklich keine direkten Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Bank haben (was so viel heißen soll, wie: Die Bank braucht das Geld nicht und wenn man es den Aktionären gibt, hat dass einen positiven Effekt auf die Bank).

So und jetzt die alles entscheidende Frage, die hier in der Erklärung fehlt, aber bei der Erklärung der Entlassungen behandelt werden sollte. Warum kann man von dem ganzen Geld, was die Bank nicht braucht, nicht noch eben 100 Millionen abzwacken, und die 1920 Leute weiter beschäftigen? Nur mit Beantwortung dieser Frage wird die Erklärung für jemanden, der nicht gerade 100.000 Aktien hält schlüssig.
JoSchu
20 Jul 2005, 18:53
Von 100 Mio. kannst du 1920 Leute mit einem Bruttogehalt von 3.000 € 17 Monate lang beschäftigen. Nicht wirklich sinnvoll, oder? Mal abgesehen davon, dass da noch nicht das Geld für die Miete ihrer Büros etc. drin ist.
Außerdem, warum sollte man Leute weiterbeschäftigen, die dem Unternehmen nichts bringen (zumindest nicht soviel, als dass sich ihre Beschäftigung finanziell lohnen würde)?
.. definiere mal bitte "sich finanziell lohnen" für Unternehmen wie die Deutsche Bank ...
.. die haben im letzten Jahr diese Gewinne gemacht, obwohl die 1920 Mitarbeiter noch beschäftigt waren ..
JoSchu
20 Jul 2005, 19:05
Der finanzielle Nutzen muss die Kosten für Gehalt, Steuern, Abgaben, Miete, ... übersteigen. So funktioniert nunmal Kapitalismus.
€: Offensichtlich sind die mit den Kündigungen einhergehenden Gewinneinbußen aber nicht so groß wie die nun nicht mehr anfallenden Kosten.