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eXma schreibt Kurzgeschichten - Der Sammelthread für eure Kurzgeschichten -
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 19 May 2006, 17:13
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2. Schein  
Punkte: 109
seit: 12.10.2005
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Gotteskrieger in der Straßenbahn Die Widrigkeiten des Öffentlichen Nahverkehrs Ich sitze in der Straßenbahnlinie 3, die Beine angewinkelt. Die DVB läßt nicht viel Spielraum für Fußathleten. Am Fenster vorbei ziehen alte, teilweise barocke Gebäude und Menschen auf Fahrrädern, unter ihnen ebenfalls alt bis barock aussehende. Ich fühle mich gut, Kopfhörer versiegeln meine kleine Kopfwelt – allein der Sitz bleibt Verbindungsstück zum Hier und Jetzt. In dieser vermeintlich sicheren Situation, dringt ein Geruch in meine Nase ein. Ein Geruch der in Straßenbahnen unvermeidbar scheint; ein süßer schweißgebadeter Hautgeruch, gepaart mit Ausdünstungen einer größeren Menge Alkohol. Ich schaue mich um, will wissen ob ich den Verursacher ausmachen kann und durch gezieltes Umsetzen mir und meiner Nase ihren unbekümmerten Zustand wieder zurückbringen kann. Mein Plan scheitert; fast jeder Mensch in meinem Abteil erfüllt die selbst ausgedachten Kriterien eines Stinktieres. So bleibe ich sitzen und drehe mein Gesicht wieder Richtung Fenster. Jetzt erhasche ich einen Blick auf einen quadratischen, in sich verschobenen Steinbau. Das andere Elbufer ist erreicht, bald habe ich es geschafft. In großer Vorfreude spiele ich an meiner Tasche herum, laß mich ablenken, gerate schnell wieder ins Träumen zum Takt meiner Musik. Als ich das nächste Mal aufschaue, weil mich jemand an meiner Schulter berührt, schaue ich in das Gesicht einer freundlichen alten Frau. Sie riecht nicht unangenehm, sogar ein wenig nach Lavendel, deshalb lächele ich zurück. Ein törichter Fehler, wie sich nur wenige Sekunden später herausstellt. Die Lavendelfrau glaubt an Gott. Sie glaubt an Gott, doch das schlimme daran ist, dass sie offensichtlich glaubt Gott würde sie mehr mögen, wenn sie fremde Menschen in Straßenbahnen anspräche um sie von ihrem Glauben zu überzeugen. Für mich ist es zu spät so zu tun, als ob ich nicht mitbekommen hätte, dass sie mir ihre private Absolution erteilen möchte. So höre ich sie sagen, sie hätte mich vor einem Jahr schon einmal getroffen und nun wäre es Zeit, mir einen Brief zu geben. Als ich das gefaltete A4-Blatt aufklappe bin ich verwirrt: Woher weiß die Lavendelfrau, dass Gott nach mir auf der Suche ist und, noch erstaunlicher, er sich danach sehnt mir seine Liebe zu schenken? Und riecht sie nicht eher nach verblühten Veilchen als nach Lavendel? Ich lehne höflich ab, wünsche ihr einen schönen Tag und sehe wie sie sich an einen anderen wehrlos nach unten schauenden Fahrgast heranpirscht. Ein ganz klein wenig hoffe ich dass dieser Fahrgast furchtbar stinkt. Dieser Beitrag wurde von the cat empire: 16 Jun 2006, 09:53 bearbeitet
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 17 Jun 2006, 22:23
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1. Schein 
Punkte: 42
seit: 10.06.2006
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Es ist schön Es ist genau ein Jahr vergangen; nicht genau auf die Minute, aber genau auf den Tag. Damals stand ich auch an dieser Kreuzung, im Laternen- und Schaubudenlicht umgeben von einer Menschenmenge, der selben Lautstärke, meine Schuhe ein wenig mehr abgetragen und das Gefühl im Bauch: ein anderes. Martin-Luther Straße Ecke Böhmische. Es ist Bunte Republik Neustadt und in den Straßen ist die Meute los. Vor dreihundertfünfundsechzig Tagen war ich das erste Mal in Dresden, war beeindruckt, fand alles nett; tagsüber auf der Suche nach einer Wohngemeinschaft und in den Abendstunden mit den neuen Mitbewohnern in den Straßen der Neustadt unterwegs. Sie mochten mich; haben mich gleich behalten und überhaupt wohnen wir noch immer zusammen. Ich stehe sowie träume. Mein Gefühl ist sentimental, berührt, schön, beneidenswert, erfreut, woanders. Jemand zieht an meinem Ärmel; ein leiser Laut des Erschreckens; für einen kurzen Moment hatte ich vergessen weshalb ich dort war. Ein Freund eines Freundes meines Mitbewohners zog; zog mich zurück auf die Martin-Luther Straße. Das war gestern Abend.
Seit zehn Minuten bin ich wach, liege auf dem Bauch, habe beide Hände unter dem Kinn verschränkt und schaue in Gras. Es ist frisch, die Kleidung ein wenig feucht. Ich liege unbequem in der Mitte von noch zwei Schlafenden. Wie früh es ist kann ich nicht sagen; es war schon früh als wir uns schlafen legten; schon hell als wir in den Elbwiesen lagen. Ein Jahr ist vergangen – nichts besonderes; es vergeht Jahr für Jahr ein Jahr, doch ist mir gestern Abend das erste mal bewusst geworden, was da Jahr für Jahr vergeht: Schönes. Zum Glück bin ich noch jung, noch nicht mal dreizig und habe den Drang Hundert zu werden, dass bedeutet noch mindestens siebzig mal Schönes. Siebzig mal in den Elbwiesen aufwachen; siebzig mal Streit, wer denn jetzt die Brötchen holt – am Sonntag; das Frühstück – selten allein; die Freunde der Mitbewohner – alle nett; die vielen Abende – manchmal ein Kater danach; jeder Tanz – John Travolta und Uma Thurman; ein Zelt aus Decken gebaut – zu zweit findet man Schutz vor Regen; Frühling; Gespräche – man erfährt so vieles; Sommer; das andere Geschlecht – so wunderbar reizvoll; das Mundwerk zu frech – trotzdem Glück gehabt; Marvin Gaye – What's Going On; Herbst; ein Witz – warum gehen Käfer nicht in die Kirche; die Antwort – sie sind Insekten; ein paar Zeilen – Du liest sie gerade; Winter, und siebzig mal die Augen wieder zu machen.Dieser Beitrag wurde von zorronte: 17 Jun 2006, 22:26 bearbeitet
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