Etwas länger, aber das musste im Ganzen rein.
Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urteil schwierig, die Gelegenheit flüchtig.
Handeln ist leicht, Denken schwer; nach dem Gedanken handeln unbequem.
Aller Anfang ist heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung.
Der Knabe staunt, der Eindruck bestimmt ihn, er lernt spielend,
der Ernst überrascht ihn.
Die Nachahmung ist uns angeboren, der Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt.
Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt.
Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge,
wandeln wir gerne auf der Ebene.
Nur ein Teil der Kunst kann gelehrt werden, der Künstler braucht sie ganz.
Wer sie halb kennt, ist immer irre und redet viel;
wer sie ganz besitzt, mag nur tun und redet selten oder spät.
Jene haben keine Geheimnisse und keine Kraft,
ihre Lehre ist wie gebackenes Brot schmackhaft und sättigend für einen Tag;
aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden.
Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste.
Das Beste wird nicht deutlich durch Worte.
Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste.
Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt.
Niemand weiß, was er tut, wenn er recht handelt;
aber des Unrechten sind wir uns immer bewußt.
Wer bloß mit Zeichen wirkt, ist ein Pedant, ein Heuchler oder Pfuscher.
Es sind ihrer viel, und es wird ihnen wohl zusammen. Ihr Geschwätz hält den
Schüler zurück, und ihre beharrliche Mittelmäßigkeit ängstigt die Besten.
Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen,
spricht die Tat. Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte
entwickeln und nähert sich dem Meister.
Johann Wolfgang von Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, 7. Buch 9. Kapitel