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- Der Sammelthread für eure Kurzgeschichten -
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 05 Jul 2006, 20:33
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1. Schein 
Punkte: 42
seit: 10.06.2006
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Der erste Tag
Zu der Zeit, als die Haare noch von der Mutti gemacht wurden, jedes Jahr neue Schuhe gekauft werden mussten, da die Alten - Größe achtundzwanzig - nicht mehr passten und ich noch auf Bäume kletterte, da fuhr jeden morgen der Bauer Stahlmeier mit seinem Moped an unserem Haus vorbei, da verkehrte noch der Omnibus zwischen Humsdorf und Hamsdorf, da wohnte der Zahnarzt in Hums und die beste Wurst gab es beim Metzger Karlson. Der wohnte in Hams, so wie meine Eltern auch, und natürlich ich ebenso. Ein Kinderzimmer und das Leben so einfach wie eine Antwort auf die Frage: welchen Weg man denn von Humsdorf nach Hamsdorf nimmt. Wenn der Zahnarzt zum Metzger wollte, dann gab es nur einen Weg: den Kastanienweg. Ich war damals schon so schlau, um zu wissen, warum er denn so einen Namen hatte. Auf der linken und rechten Seite säumten Kastanien den Wegrand. Die waren so groß, dass ich zwölf Schritte brauchte, um einmal um den Baumstamm herum zu gehen. Der Weg war normal breit. Wenn sich zwei Traktoren auf dem Kastanienweg trafen, dann vergingen schon mal Stunden bis die dicken Räder aneinander vorbei waren. Da fuhr man wieder ein Stück zurück, da musste eine freie Stelle zwischen den Kastanien gefunden werden, dann wurde noch wild mit den Armen gewackelt und alles dauerte noch länger, wenn die Traktoren noch einen Anhänger hatten. Zu einer Zeit, als ich noch so leicht war, dass ich hätte fliegen können; als ich das erste Mal verlegen wurde, wenn einen die Mädchen anlächelten; oder auch nicht. Lang, lang ist es her, dass ich zu manch später Stunde einer liebmütterlich gemeinten Untersuchung erlag. Es wurde die Zuckerwatte aus dem Gesicht gewischt, die Haare vom Laub befreit und manchmal auch die Knie mit einem Pflaster versorgt. Es ist vielleicht ein wenig gelogen; meine Mutter machte sich nicht jeden Abend sorgen. Obwohl ich nie eine Uhr bei mir trug, war ich doch ein pünktlich hungrig werdender Frechdachs. Nur manchmal, wenn die Zeit ohne mich tickte, die Ferne so neu und der Weg zurück immer irgendwie länger als in die andere Richtung war, da hatte Mutter die Hände in den Hüften, war sichtlich beruhigt und war es noch mehr, wenn beide Arme und Beine noch dort waren, wo sie hingehörten. Mein Vater nahm das Ganze ein wenig leichter. Wenn er kurz vorm Schlafengehen noch an meinem Bett saß, dann sagte er mit seiner gutmütigen Männerüberlegenheit, dass ich Mutter irgendwann einmal verstehen werde; zog mir die Decke bis zu den Schultern, gab mir all seine Verbundenheit auf die Stirn und machte das Licht aus. Ich erinnere mich noch ganz genau; es war der Tag vor meinem letzten Schultag. Ich hatte erfolgreich die erste Klasse hinter mich gebracht und da auch meine Eltern nicht wussten, warum es den letzten Schultag eigentlich gab, durfte ich an diesem Abend ein wenig länger von zu Hause wegbleiben. Hände nicht gewaschen, Abendessen, mit dem Ärmel einmal über den Mund und im Dreierhop zur Tür hinaus; draußen. Für einen kurzen Moment der Welt die Zunge gezeigt. War so gemeint: kann ohne Hilfslinien schreiben, kann dividieren, multiplizieren, plus und minus sowieso, und morgen sind Ferien. Ich lief in Lichtgeschwindigkeit zu meinem Freund Klaus.
Und in wenigen Tagen wird erzählt, was passiert, wenn man in Lichtgeschwindigkeit mit den Naturgesetzen zusammenprallt.
Dieser Beitrag wurde von zorronte: 05 Jul 2006, 20:46 bearbeitet
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 05 Jul 2006, 22:34
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drawn to wisdom       
Punkte: 1230
seit: 20.10.2005
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Zorrontes Schöpfung "Der erste Tag" liest sich wie ein Eintrag ins Tagebuch, dass man ein Jahr lang im Schreibtisch vergessen hatte. Zu einer Kurzgeschichte gehört doch auch eine Pointe, die aber hier irgendwie ausgeklammert im Raum-zeit-gefüge scheint : erster tag | humsdorf -kastanienweg -hamsdorf |letzter schultag. Eine weitere Merkwürdigkeit: Axiom [Naturgesetz] und Vektor [c] können kollidieren? Erwartet uns als Fortsetzung ein wissentschaflicher Exkurs? Das spricht mein Interesse an. Viel Spaß beim schreiben, Zorronte. #erwartungsvoll, myrmikonos
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 05 Jul 2006, 23:19
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1. Schein 
Punkte: 42
seit: 10.06.2006
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Nicht zu jeder Kurzgeschichte gehört eine Pointe - viele enden mit Einer. Anekdoten enden immer mit einer Pointe.
Die Lichtgeschwindigkeit ist kein Vektor. Sie eine universelle Konstante – in der Mathematik sagt man Skalar dazu – und abhängig vom Medium in dem ich mich befinde, von der Frequenz der Strahlung und, darüber streiten sich Maxwell und Newton noch heute, von der Schrittfrequenz meiner Beine. Die Richtung zu meinem Freund Klaus ist dann der Vektor, auf dem ich mich bewege. Wenn Du Skalar und Vektor multiplizierst, dann weißt Du, wie weit es zu Klaus ist. Ist der Skalar negativ, dann laufe ich in die falsche Richtung.
Und Deine Frage, ob denn ein Naturgesetz mit einem Vektor kollidieren kann, muss leider mit nein beantwortet werden.
Dieser Beitrag wurde von zorronte: 05 Jul 2006, 23:24 bearbeitet
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 05 Jul 2006, 23:42
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2. Schein  
Punkte: 109
seit: 12.10.2005
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Dieser Klaus war sicher ein ebenso rotzfrecher Knirps wie du, mit aufgeschürften Knien und dem Verlangen, niemals auf der Linie zu laufen. Eine lebensgroße Hüpfburg auf die Kindheit!
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 24 Jul 2006, 14:02
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1. Schein 
Punkte: 42
seit: 10.06.2006
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Ja, ja .. bei dieser Hitze wollen sogar dem Stift keine Worte einfallen .. Mutter
Es ist Amoniak, die Nase merkt es sofort doch heute wieder frisch weil schon zu lange nicht mehr an diesem Ort
Ob sie schläft, weiß ich nicht Ob ich ihr Sohn bin hat sie schon früh vergessen, doch meine Pflicht
Alles was ich sehe; Speichel, Haar und Rotz der Raum damit ganz ausgefüllt Meine Hand erhoben, ein Gruß zum Trotz
Der Rollstuhl wie immer, er trägt sie zur Zier. Oh, Mutter bin ich doch nicht nur wegen dem Gelde hier.
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 06 Aug 2006, 23:04
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2. Schein  
Punkte: 109
seit: 12.10.2005
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Meine Schwester fliegt nach Australien Meine Schwester fliegt nach Australien. Sie hat es mir gerade am Telefon erzählt. Heute. Es ist Sonntag, ich konnte nur leise entgegnen, dass ich das sehr schön finde. Natürlich freue ich mich für meine Schwester, schließlich hat sie mir immer geholfen, hat mir schon damals die Welt der Erwachsenen erklärt, als ich das noch für das ganz große Abenteuer hielt. Jetzt, wo ich vor lauter erwachsen werden kaum noch ohne Schuldgefühle kindisch sein kann, erfahre ich, dass sie sich einen großen Traum erfüllt. Und nun? Ich könnte so tun als wäre mir das völlig egal, hätte sie mir das nicht schon vor Jahren ausgetrieben. Ignoranz, hat sie gesagt, wäre noch schlimmer als Neid, ja sogar Hass sei eine ehrlichere Gefühlsregung als solch ein Desinteresse. Nervös kaue ich mir einen Fingernagel ab, schnipse ihn quer durch das Zimmer und denke nach wie es wohl ist, dort in Australien, dem Land auf der anderen Seite der Welt. Da sehe ich meine Schwester wie sie durch endlose rote Weiten reist, sich abends an einem warmen Lagerfeuer zusammenkauert und sich Geschichten über Länder anhört, die wiederum ganz weit weg sind von Australien – Rucksacktouristen neigen zu Reisenostalgie – und in mir steigt Abenteuerlust auf. So ehrlich dieses Gefühl auch ist, es wurmt mich und ich wünschte, meine Schwester hätte ihren Mund gehalten. Warum muß sie überhaupt irgendwohin fliegen? Warum nach Melbourne frage ich sie prompt. Sie ist noch am Telefon, ich wäre seit einigen Minuten so schweigsam raunt sie in ihre Seite des Hörers. Nun, Melbourne sei die Stadt von der sie gelesen hat, dass sie ein Märchen wäre, auch für den der aus Sydney kommt. Und aus Sydney kämen sie alle hat sie gesagt. Meine Schwester hat ein Buch gelesen in dem stand geschrieben, dass Sydney so aussieht als hätte man aus einem gigantischen Becher Tausende von Würfeln auf eine bizarr gezackte, von Hügeln umsäumte Bucht geschüttet, unbekümmert darum, ob der eine oder der andere Würfel ins Meer fiel oder am Felsenrand hängenblieb; meine Schwester holt erneut tief Luft; dann stapfte ein Riese durch das bewürfelte Land und schuf so die Serpentinenstraßen am Hafen. Und wo er hinschiß, ist die City. Genau so hat sie es gesagt und am Schluß hat sie gelacht, wahrscheinlich weil sie sich bildlich vorgestellt hat wie so ein Riese einen gigantischen Haufen scheißt und diesen zur Innenstadt erklärt. Ich mußte auch kurz lachen, da ich ebenfalls nicht finde, dass Riesenscheiße ein geeignetes Material zum Bauen von Städten ist, schon gar nicht von Innenstädten. Also fliegt meine Schwester lieber nach Melbourne, jetzt liegt das ganz klar auf der Hand. Das Buch in dem Sydney als Exkrementauswurf eines würfelnden Riesen beschrieben wird, erklärt aber auch warum Melbourne auf Menschen, auch auf die aus Sydney, so feenhaft wirkt. Melbourne sei durch einen Feenkönig (natürlich!) sorgsam erdacht worden bevor er es hinzauberte, und hernach hüpften seine Töchter über die Wege und bestreuten sie mit unsäglich bunten Beeten und Blumen und Sträuchern. Wieder ein Lachen auf beiden Seiten des Hörers, diesmal verschlucke ich mich fast an meinem Kaugummi. Melbourne klingt ganz nach einer Menge Spaß, auch für Menschen die nicht aus Sydney kommen. Als meine Schwester auflegt schließe ich meine Augen. Ich sollte auch mal wieder lesen.
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 09 Aug 2006, 14:38
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Neuling
Punkte: 2
seit: 08.08.2006
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ich betrachte sie meist kann ich gar nicht anders ausgefüllte zeit - nur mit ihr wie sie da liegt so friedlich
ich habe ihr diesen frieden geschenkt
augen geschlossen mund steht offen küsse ihn sacht ihre haare verteilt über das kissen verspielte zufälle
die finger so weich müde und kraftlos kann sie streicheln
sie gehört nun nur mir
deck dich zu damit du nicht frierst nie mehr sollst du leiden bist auf ewig meine schöne
graue gedanken wie lange vermag ich sie noch zu halten den verfall hält niemand auf
in einigen tagen wird sie anfangen zu stinken.
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er wird abwischen alle tränen von ihren augen und der tod wird nicht mehr sein
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